Aktuelle Gedanken

Das Leben fragt und wir antworten

Inge Patsch: Für mich war die Logotherapie immer eine Befreiungslehre und nicht eine Befolgungslehre. Ich bin 1952 geboren und habe während meines Heranwachsens immer darunter gelitten, was zu sein hat und wie ich zu sein habe, um in die damalige „Norm“ zu passen. Viktor Frankl hat mir die Türe geöffnet in eine Welt, die immer schon meine war und ich nun kennenlernen durfte: Seine Erkenntnisse waren so bodenständig und realistisch und fernab von Belehrungen „Wenn du das tust, dann passiert das …“. Wer sein Ziel weiß, verfolgt dieses und findet es auch. Das Leben fragt und wir antworten. Eigentlich hat mich aber die Logotherapie daran erinnert, was mir meine Großmutter schon gelehrt hat: Das Streben nach einer großen inneren Freiheit.

Inge Patsch: Die Logotherapie-Ausbildung habe ich schon mit Ende Dreißig gemacht – hauptsächlich motiviert aus der Zerrissenheit, nicht allen, vor allem nicht mir selbst, gerecht werden zu können. Mit 50 Jahren war ich ein Jahr lang im Krankenstand und musste mich danach komplett neu orientieren. Gemeinsam mit Günter Funke habe ich das Tiroler Institut für Logotherapie gegründet. In dieser Zeit begann ich Lehrgänge und Tagungen zu organisieren. Die erste große Tagung fand zum 100. Geburtstag von Viktor Frankl statt. Insgesamt habe ich sieben Bücher geschrieben. Das Ganze war kein Zufall, sondern von Anfang an harte Arbeit.
Zwanzig Jahre habe ich das TILO geleitet und zwanzig Lehrgänge für psychologische Beratung auf Basis der Logotherapie und Existenzanalyse angeboten. Im Dezember 2022 war es Zeit für mich von dieser Form der Ausbildung Abschied zu nehmen.

Inge Patsch: Anfangs überwiegt der Schmerz. Wenn man diesen mit einem anderen Menschen teilen kann, ohne sofort eine Handlungsanweisung oder ein „Rezept“ zu bekommen, ist das für mich der Inbegriff von Trost. Trost finde ich auch in guten Beziehungen und in der Musik. Bei mir ist es bevorzugt Mozart und hier die G-Moll, wie sie Nikolaus Harnoncourt umsetzt. Die Musik ist für mich wie ein feiner Mantel, der so leicht wie Seide ist und mich nicht belastet. Aber ich weiß, er ist da und das ist gut so. Mit etwas zeitlichem Abstand tröstet auch der Gedanke, authentisch gelebt und ihm nichts schuldig geblieben zu sein, dieses Gefühl hatte ich auch beim Tod meiner Mutter. Vielleicht war ich nicht die Frau, beziehungsweise Tochter, die sie sich gewünscht haben. Aber das Meinige, das habe ich getan.

Bei der Beerdigung meines Mannes war es mir ein großes Anliegen, sein Leben nicht auf Leistung zu reduzieren, sondern ihn als Mensch zu beschreiben. Frankl sagt: „Das Wesen des Menschen ist unabhängig von jeder Leistung.“ Und auch hier geht es als Trauernde darum, zu sich selbst zu stehen und nach den eigenen Bedürfnissen zu handeln – egal, was Außenstehende dazu meinen und sagen. Und die Tränen zulassen! Es gibt diesen schönen Text aus dem Stundengebet, den ich bei den Beerdigungen in meiner Familie vorgetragen habe:


Inge Patsch: Wenn man den Mut hat, seine Trauer zu zeigen – auch in Form von Tränen – meinen viele, dich von deinen Tränen befreien zu müssen. Das hat viel mit unserer Prägung zu tun, wie wir selbst groß geworden sind. Das Gegenüber muss aushalten können, dass man jetzt einfach traurig ist. Und dem Raum zu geben, ist für viele schwierig. Dabei finde ich es so schön, wie Dorothee Sölle es sagt: „Herr, gib mir die Gabe der Tränen.“

Inge Patsch: Man darf nie von außen denken, dass man weiß, wie´s geht. Ein Beispiel: Meine Großmutter starb mit 104 Jahren alleine in den frühen Morgenstunden. Wir hatten eine wirklich innige Verbindung und ich wurde anschließend gefragt, warum ich nicht über Nacht bei ihr geblieben bin. Mir war völlig klar: Meine Großmutter WOLLTE alleine sterben. Und darum geht es und nicht um Erwartungen von außen.

Noch ein anderer Gedanke: Wir gehen im Umgang mit Trauernden auch immer von guten Beziehungen aus. Es gibt aber auch jene Beziehungen, wo Mann oder Frau, Töchter oder Söhne erleichtert sind, dass sie befreit sind. Ich finde es wichtig, auch das öffentlich zu benennen: Es gibt auch die Befreiung aus einer Beziehung.

Inge Patsch: Das sich einlassen ist entscheidend. In der Trauer bleibt man lebensfähig. Das ist der große Unterschied zur Depression – man spricht hier von der „Losigkeitskrankheit“: Man ist freudlos, appetitlos, schlaflos … Es ist für mich sehr wichtig, dass man Trauer nicht mit Depression gleichsetzt. Als mein Großvater vor über 60 Jahren starb, erinnere ich mich an eine große Selbstverständlichkeit in der Verabschiedung: Man war füreinander da, es war berührend, aber nicht belastend. Das ist in unserer Gesellschaft verloren gegangen.

Inge Patsch: Auch das ist individuell. Mir persönlich widerstrebt es, wenn etwas zu sehr ritualisiert wird, aber wenn es anderen Halt gibt, ist es natürlich ok. Eine allgemein gültige Regel gibt es nicht. Ich plädiere für den Mut, den Spielraum der Trauer selbst zu gestalten und zu leben.

Inge Patsch: Wenn das Positive rein aus der Vernunft kommt, werden wir dem Leben selbst nicht mehr gerecht. Eine positive Grundeinstellung zum Leben ist sicherlich hilfreich, es geht aber meiner Meinung nach vielmehr darum, die leisen Töne in mir zu hören und das beinhaltet für mich auch die dunklen Seiten. Es ist eine Modeerscheinung, dass wir alles Belastende in unserem Leben vermeiden sollen. Dadurch kommen wir immer mehr in einen Zwang, uns selbst und unser Leben nicht mehr ernst zu nehmen. Wesentlich ist für mich die Frage, wofür ich mich begeistern und freuen kann.



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