Mir war, als triebe da irgendetwas, irgendjemand sein Spiel mit mir, irgendeine geheimnisvolle Kraft, der ich mich nicht entziehen durfte.
Es war, als verliefe alles nach einem geheimen Plan.
Tiziano Terzani
Immer wieder begegnet mir das Geheimnis glücklicher Zufälle. Als solchen Zufall empfinde ich im Rückblick auf das vergangene Jahr einige Ereignisse, die ich so nicht geplant hatte. Die Veränderung in der Gesellschaft ist wohl für fast alle spürbar. Nicht nur ich musste einige Seminare aus Mangel an Interessierten absagen, sondern vielen anderen erging es ähnlich.
Heute kann ich nur dankbar staunen, dass es mehr als zwanzig Jahre möglich gewesen ist, Menschen zu inspirieren und für das weite Land der Seele und der Philosophie zu interessieren.
Daher bin ich besonders dankbar, was in diesen vielen Jahren möglich wurde. Vielleicht empfinde ich gerade deswegen das Geheimnis glücklicher Zufälle intensiver. Es liegt mir fern irgendetwas zu konstruieren, was hinter diesem Zufall steckt. Vielleicht ist es der „unbewusste Gott“ wie Viktor Frankl ihn nennt oder jene „zentrale Ordnung“, die Werner Heisenberg beschreibt. Das mag eine sehr kindliche Auffassung sein, von dem, was größer ist als der Mensch. Doch sie ist frei von der Starrheit konfessioneller Enge. Ich bin überzeugt davon, dass wir ein eigenes Maß von Naivität brauchen. Naivität hat nicht mit Dummheit zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass wir Menschenkinder nicht alles im Griff haben. Der Schriftsteller Siegfried Lenz beschrieb die Naivität so: „Naivität: man kann sie auch die Unschuld des Herzens nennen; im Vergleich zeigt es sich, dass diese Naivität auch ein Element der Poesie ist. Poesie ermöglicht es, uns eine fremde nicht erfahrene Welt anzueignen.“
Die gute Psychologie – die Lehre von der Seele – wurde zum Psychologismus mit seinen beherrschenden Argumenten, mit denen man jede Motivation und jedes Missgeschick beweisen und erklären will. An allen Ecken und Enden werde ich von gut gemeinten Ideen überfallen. Ja, überfallen! Denn es sind fast alles Aufforderungen zur Aktivität. Ich soll mir Zeit für mich, ich soll lächeln, ich soll mich an der Natur freuen! Und all das sei dann genug, um mich wohl zu fühlen? Ich zweifle sehr an dieser Oberflächenpolitur. Bei vielen brodelt es unter der Oberfläche, denn es hält kein Mensch aus, ständig das ICH im Mittelpunkt des Geschehens zu sehen und zu machen. Das kann nicht gut gehen, denke ich mir, denn ich bin nicht meines Glückes Schmied. Allenfalls kann ich jene Herausforderungen gestalten, die ich nicht geplant habe und die mich manchmal auf dem falschen Fuß erwischen.
Der Nobelpreisträger Werner Heisenberg verglich das Leben eines Menschen mit der Fahrt eines Schiffes: „Wenn es aus so viel Eisen gebaut sei, dass die Kompassnadel nur noch auf das Schiff selbst zeige, gehe dieses in die Irre. Nur durch die Orientierung auf einen außerhalb des Schiffs liegenden Punkt, also den Nordpol, könne das Schiff den richtigen Weg finden.“ Wie klug war dieser Mann und ich werde mir wieder die Dokumentation über den Quantenphysiker anschauen, die es im Netz gibt.
Also nicht das Schielen auf das eigene Wohlfühlen beflügelt, sondern das „ausgerichtet sein auf etwas, das nicht wieder ich selbst bin“, wie Viktor Frankl dies nennt.
Ich empfinde eine fast überwältigende Dankbarkeit, wenn ich an meine Mutter und meine Großeltern denke. Ich wuchs in einer Wohnung mit drei Zimmern in Innsbruck auf, in der sieben Menschen gelebt haben. Interesse an Literatur, an Musik und an Kultur haben mir diese Menschen – trotz finanzieller Armut – mitgegeben.
Auf diese Weise lande ich bei Stefan Zweig, Kurt Tucholsky und Theodor Fontane. Natürlich können Sie sich fragen, was an Literatur nützlich sein soll? Ich antworte gerne: Nichts, ist nützlich an Literatur, aber unglaublich bereichernd. Mich erfüllt es mit Freude, wenn ich bei jemandem Gedanken lese, die ich selbst schon einmal gedacht habe. Bei Kurt Tucholsky habe ich den Text „Gefühle nach dem Kalender“ gefunden. Vieles, was er schreibt, ging mir auch schon durch den Kopf
„Der Grund, dass wir wirklich – jedes Weihnachten – in jedem Jahr – immer aufs Neue imstande ist, genau um den 25. Dezember herum die gleichen starken Gefühle zu hegen, liegt doch wohl darin, dass sie sich angesammelt haben. Es muss doch irgend etwas da sein, das tropfenweise anschwillt, das ganze Jahr hindurch.
Schließlich ist doch der Kalender etwas ganz Äußerliches, Relatives, wir sind in gewisser Hinsicht mit ihm verwachsen – aber die Zeit ist nicht in uns, wir sind in der Zeit. Und das kleine Blättchen, das den Vierundzwanzigsten anzeigt, ist kein Grund, es ist ein Signal und ein Anlass.
Ich habe immer das Gefühl, als ob wir jede Woche im Jahr weihnachtliche Empfindungen genug aufbrächten – aber gute Kaufleute, die wir sind, legen wir sie ›in kleinen Posten‹ zurück, bis es sich einmal lohnt. Im Dezember ist dann das Maß meist voll.
Ist es nicht schließlich mit jedem Gedenktag so? Warum sollen wir gerade am neunzehnten an sie denken, und warum nicht einen Tag später? ›Heute vor einem Jahr – -‹ ach Gott, entweder wir empfinden immer, dass sie auf der Welt ist – oder wir empfinden am neunzehnten auch nur konventionell. Gefühle nach dem Kalender: das geht nur, wenn der Kalender sie ins Rollen bringt.
Lasst uns einmal von dem Festtags-Rummel absehen, der in einer großen Stadt unvermeidlich ist. Lasst uns einmal daran denken, wie Weihnachten gefeiert werden kann, unter wenigen Menschen, die sich verstehen. Das ist kein Ansichtskarten-Weihnachten. Das ist nicht das Weihnachten des vierundzwanzigsten Dezembers allein – es ist das Weihnachten der Seele. Gibt es das? Es soll es geben. Und gibt es auch, wenn ihr nur wollt.“
dann können wir irgendwie das Handeln schaffen.
Dominik Bloh ein junger bemerkenswerter Mann, der mit sechzehn Jahren obdachlos wurde. Über seine Erfahrungen schreibt er in seinem Buch „Unter Palmen aus Stahl“.
Wer ihn hören und sehen will – findet ihn im Internet
Wer ihn nur hören will – findet auf der „Blauen Couch“ im Bayrischen Rundfunk ein berührendes Gespräch.
Und im SWR „Vom Straßenkind zum Bestsellerautor“
Sabine Rückert, eine Journalistin, las im Dezember 2024 im Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ folgende Geschichte:
„Werner Forßmann will 1929 beweisen, dass man mit einem Katheter über eine Vene bis zum Herzen vordringen kann. Er braucht dafür Hilfe einer Chirurgie-Krankenschwester: Sie hat die Schlüssel für den Schrank mit den Kathetern, und sie kann ihm assistieren.
Er benötige einen Blasenkatheter, sagt Forßmann der Schwester, sie öffnet den Schrank und ahnt nicht, was jetzt kommt. Forßmann setzt sich einen Schnitt in den Arm und schiebt den Schlauch in Richtung Herz. Mit dem Katheter im Arm geht er, begleitet von der überrumpelten Schwester, in den Keller zum Röntgengerät. Er will beweisen, dass er sein Ziel erreicht hat. Als er seine Technik in einem Fachaufsatz beschrieb, reagierte sein Chef – der große Ferdinand Sauerbruch – mit der Arroganz der medizinischen Orthodoxie: Solche „Zirkusstücke“ solle Forßmann lieber woanders machen! Der Pionier verlor seinen Job an der Charité. Erst spät erkennt die Fachwelt das Potenzial der Methode. Forßmann erhält 1956 den Nobelpreis.“
Für mich liegt darin auch das Geheimnis eines glücklichen Zufalls. Ich weiß nicht, wo ich heute ohne Herzkatheter wäre . . .
die möglicherweise sehr viel beten,
so oft in intolerante, grausame
und unbarmherzige Menschen?
Weil sie so sehr von ihrer eigenen Rechtschaffenheit überzeugt sind, dass sie sich nicht die geringsten Gedanken über ihre Grausamkeit machen.
Statt dessen beglückwünschen sie sich dafür,
dass sie sich voll und ganz
der Sache der Wahrheit verschrieben haben.
Den Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ empfehle ich immer. Für mich sind die Gespräche zwischen Sabine Rückert und ihrer Schwester, Johanna Haberer hörenswert, wissenswert und vor allem bereichern sie mein Menschenbild und mein Denken. Ich erwarte weder im Hören noch im Lesen Antworten auf Fragen, die mir das Leben stellt. Ich genieße die Tatsache, dass mir die Technik ermöglicht, zu hören, zu lesen, zu suchen, zu finden, mich inspirieren zu lassen. Für mich liegt darin eine Art Geheimnis glücklicher Zufälle.
Da ich oft gefragt werde, wie man diesen Podcast findet, habe ich alle Spezialfolgen zu Advent oder Weihnachten gesammelt.
2019
Adam und Eva